Wohin zur WM, wer es nicht nach Russland schafft? Das Restaurant der Natsiks ist eine gute Alternative.

Weil der Stadt - Erst das Teekonzentrat in die Tasse. Viel oder wenig, je nachdem, wie stark der Besucher den Tee will. Dann kommt Wasser rein, erklärt Vladislav Natsik und rollt dabei das R. „Das Gefäß mit dem heißen Wasser heißt Samowar“, bekommt der Besucher dann erklärt. „Das könnte man auf deutsch mit Selbstkocher übersetzen.“

 

Der Samowar mit dem heißen Wasser gehört zu einem russischen Wohnzimmer. Genauso, wie die gut gepolsterten Sessel und Stühle, die warmen, roten Farben, die Balalaika an der Wand. In Weil der Stadt, mitten in der Altstadt, haben die Natsiks ein solches russisches Wohnzimmer eingerichtet und laden ein. Auf der Speisekarte stehen Blini und Borschtsch.

Von Sibirien ins Heckengäu

Wenn von heute an der Ball in Russland rollt, dann hat man hier eine der wenigen Möglichkeiten, die Kultur des WM-Gastgeberlandes kennenzulernen. Einschlägige Fachportale im Internet kennen kein zweites russisches Restaurant in der Region Stuttgart, auch Vladislav Natsik weiß von keinem Kollegen, der dasselbe macht, wie er. „Dass man Essen geht, das gehört nicht zur russischen Kultur“, erklärt Natsik. Zu Sowjet-Zeiten habe es kaum Möglichkeiten geben. In seiner Heimat Omsk in Sibirien, immerhin eine Millionenstadt, hatte es damals nur vier Restaurants gegeben. „Wir konnten uns nur zuhause treffen“, erinnert sich der Gastwirt. Zuhause, also in der Küche oder eben im Wohnzimmer, wie er es sich jetzt in Weil der Stadt eingerichtet hat.

Dass Vladislav Natsik einmal in dem schwäbischen Heckengäu-Städtchen landen würde, das ahnte er damals, zu Sowjet-Zeiten, noch lange nicht. In einer kleinen sibirischen Stadt im Altai-Gebirge ist er auf die Welt gekommen. Seine Vorfahren waren Russen, die Deutschen hat er aber damals schon kennengelernt. „Die Deutschen waren in Russland überall präsent“, sagt er, „mein bester Freund damals war auch Deutscher.“

Plötzlich war alles anders

Fleißig und sauber sind die Deutschen, so hat Vladislav Natsik sie damals in Russland kennengelernt. „Die Straßen in den deutschen Dörfern waren sehr gepflegt, überall gab es frische Blumen.“ Von 1988 bis 1993 studiert er Englisch in Omsk. Kurz kann er noch als Englischlehrer arbeiten, aber dann kommt der große Zusammenbruch der Sowjetunion. „Plötzlich war alles anders“, erinnert Natsik sich an diese Zeit. „Alles, was vorher schlecht war, war jetzt plötzlich gut.“ Die staatliche Infrastruktur bricht komplett zusammen, jeder muss sich durchschlagen. 24 Jahre ist Vladislav Natsik damals alt und muss seine kleine Familie und das Kind durchbringen.

Er gründet ein Reisebüro, organisiert Sprachreisen für Kinder und Jugendliche nach Großbritannien, handelt parallel aber auch mit Stoffen, Gardinen und alten Möbeln. „Die Zeit war chaotisch, dubios und wild. Selbst wenn wir Steuern zahlen wollten, hätten wir nicht gewusst, wohin.“ Mafiöse Strukturen bilden sich, und dann: „Eines Tages wurden wir überfallen. Gott sei Dank konnten wir fliehen.“ Schutzgeld habe er nämlich nicht zahlen wollen. Den Natsiks bleibt nur eine Möglichkeit: die Auswanderung.

Vladislav Natsiks damalige Frau hatte deutsche Wurzeln. „Darum haben wir beschlossen, nach Deutschland auszuwandern“, sagt er. 1995 stellen sie den Ausreiseantrag, 1997 kommt die Familie nach Malmsheim, wo Freunde von ihnen wohnen. „Ich hatte einen sehr positiven Eindruck von den Menschen hier und den Behörden“, erinnert sich Vladislav Natsik. 27 Jahre ist er damals jung – und das Unternehmerblut fließt immer noch in ihm. Als Fliesenleger schafft er, als Bodenschleifer, dazu besucht er den Deutschkurs und fängt in Böblingen eine Ausbildung zum Informatiker an. „Nach drei Jahren konnte ich schon fließend Deutsch.“ Da entdeckt er die Stellenanzeige eines Autohändlers in Böblingen, wo er sofort angestellt wird.

Die russische Kultur kommt in Weil der Stadt gut an

Acht Jahre ist Vladislav Natsik Autoverkäufer, in dieser Zeit findet die Familie eine Wohnung in Weil der Stadt. Aber das Unternehmerblut zirkuliert immer noch. „Denn in Russland mussten wir was unternehmen, um zu überleben.“ Der Traum war die Selbstständigkeit, Natsik kündigt 2007. Einen Plan hat er noch nicht, aber er kauft das Ladenlokal in der Stuttgarter Straße. „Irgendwas mit Import/Export wollte ich machen“, erinnert er sich. Er nimmt ein Studium in Reutlingen auf. Nebenher macht er in seinem Ladenraum ein kleines Café auf – vorläufig.

Und dabei ist es bis heute geblieben. „Die Resonanz war von Anfang an super“, sagt er. Nicht nur russisches Essen, sondern die russische Kultur holt er nach Weil der Stadt, veranstaltet Musik- und Theaterabende, lädt Künstler ein, „Ich spüre, dass viele Deutsche die Russen nur als Alkoholiker und Bärenreiter sehen“, stellt er fest. „Das ist aber ein falsches Bild, denken Sie nur an die vielen russischen Schriftsteller und Komponisten.“ Tolstoi und Tschechow lachen daher von der Speisekarte, die Balalaika hängt nicht nur an der Wand, sondern wird auch benutzt. Und der Fußball? „Ja, ab und zu fragen die Gäste: Wie ist es eigentlich mit dem Fußball in Russland?“, sagt Natsik. Dann wird der Wirt nachdenklich. Zu Sowjet-Zeiten habe es in jedem Dorf einen Verein und ein kleines Stadion gegeben – bis zu den Wirren des Umbruchs. „Da ging alles kaputt und wurde ruiniert“, sagt Vladislav Natsik. Heute wachsen in den alten Stadien Bäume, Wettbewerbe gibt es nicht. „Russland wird die Spiele natürlich wieder verlieren“, ahnt Natsik. Aber nicht, weil die Russen schlecht spielen, der Sport werde einfach nicht gefördert wie in Deutschland.

Dennoch findet Natsik die WM wichtig. Schon allein, damit man das Land besser kennenlernt. Und wer es nicht nach Russland schafft, der kann einstweilen das kleine Lokal in Weil der Stadt besuchen.